Schlechte Angewohnheiten erkennen und aufgeben

Das nachfolgende Interview hat unsere ehemalige Mitarbeiterin Frau Reich-Soufflet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben.

Diäten sollen schlank machen, bewirken jedoch oft genau das Gegenteil - und machen schließlich sogar dicker. Denn niemand schafft es auf Dauer, rigide Essensfahrpläne einzuhalten, sich beispielsweise nur noch von Reis, einem Mahlzeiten ersetzenden Pulver oder Eiern mit Speck zu ernähren. Solche einseitigen Kuren sind nicht nur gesundheitsschädlich, sondern lösen zwangsläufig Heißhungerattacken aus. Wer sich wochenlang Dampfnudeln oder Schwarzwälder Kirschtorte verkneift, den wird die Gier nach diesen Köstlichkeiten selbst noch im Traum verfolgen.

Jocelyne Reich-Soufflet, Ernährungspsychologin und staatlich geprüfte Diätassistentin, sagt, jeder Mensch habe zudem einen hormonell und vom Stoffwechsel gesteuerten Regulationsmechanismus im Körper, der diesen auf ein bestimmtes Gewicht einstelle. Wer gegen dieses Gewicht angehe und sich Schlankheitskuren unterwerfe, verringere sukzessive seinen Grundumsatz. Und damit steige die Gefahr, schnell wieder zuzunehmen. Selbstverständlich wollten Übergewichtige von ihrer Figur so schnell wie möglich Abschied nehmen, attraktiver und schöner werden. Deshalb seien Methoden, die rasche Erfolge versprächen, auch so verführerisch. Doch sie banalisierten die eigentlichen Probleme.

Reich-Soufflets These lautet: "Man muss die Phasen einer Störung erkennen." Dabei unterscheidet die Ernährungspsychologin drei Phasen: jene vor der Mahlzeit, die Mahlzeit selbst und die Phase danach. Wer es beispielsweise bisher immer vernachlässigt habe, sein Essen in Ruhe vorzubereiten und sich dann an den Tisch zu setzen, werde auch mit einem Diätplan in der Hand scheitern und von einem Eßzwang überfallen werden, noch bevor er die vorgeschriebene Mahlzeit zubereitet habe. "Das erste, was diese Menschen einschalten, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen, ist das Kühlschranklicht."

Reich-Soufflet spricht von "Baustellen", die es wahrzunehmen und zu bearbeiten gelte. So esse mancher immer den Teller leer oder gleich direkt aus der Packung, andere zählten bei Tisch zur "Kategorie der Picker", könnten anschließend aber über den gesamten Nachmittag und Abend nicht aufhören, zu naschen. "So wird das Essen zu einer unendlichen Geschichte."

Bei wieder anderen seien Nahrungsmittel zu Suchtmitteln geworden. Es sei eben ein Unterschied, ob man sich ein Stückchen Fleischwurst aufs Brot lege oder gleich einen ganzen Ring in der Garageneinfahrt verdrücke. In solchen Fällen nutze es auch wenig, wenn Obst oder Gemüse in unbegrenzten Mengen erlaubt seien. Denn der Betreffende komme nicht von dem Zwang los, Riesenmengen vertilgen zu müssen. Bleibe es heute bei sieben Orangen, seien es schon morgen vielleicht ebenso viele Hamburger. "Mir geht es darum, ein solches Verhalten bewußt zu machen und meine Klienten dabei zu begleiten, langfristig etwas zu verändern." Dabei sollten die Patienten in einer Art Selbstmanagement herausfinden, was ihnen guttue.

Reich-Soufflet ist freie Mitarbeiterin des Frankfurter Zentrums für Essstörungen, viele Patienten, darunter 40 Prozent Männer, suchen sie auf ärztlichen Rat hin auf, zum Beispiel, weil sie infolge des Übergewichts unter Bluthochdruck leiden. In der Regel kommen die Patienten zwei bis drei Jahre in ihre Praxis, anfangs alle zwei Wochen, später einmal im Monat. Die erste Sitzung kostet 65 Euro, jede weitere 55 Euro. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen maximal fünf dieser Treffen mit einem Betrag von jeweils höchstens 35 Euro. Die meisten privaten Versicherungen zahlen gar nichts, sondern verweisen beispielsweise auf eine Psychotherapie.

Nach dem ersten Gespräch mit der Ernährungspsychologin hat sich schon manch einer gewundert, daß er die Praxis nicht, wie erwartet, mit einer Verbotsliste oder einem Diätplan verlassen hat. Reich-Soufflet erklärt: "Für mich gibt es keine falschen Lebensmittel, sondern nur unglückliche Verhaltensweisen." Um diese zu entdecken, schildern die Leute ihr "gute und chaotische Tage", schreiben auf, was sie zu welcher Uhrzeit zu sich nehmen. Einem Mann zum Beispiel, der überhaupt nichts frühstückte, sich gegen 11.30 Uhr in der Kantine ein belegtes Brötchen holte, nachmittags zwei Schokoriegel aß und abends "so richtig zuschlug", verbot sie nicht die Süßigkeiten. Obwohl der Betreffende unter "später" noch Kekse notiert hatte. Reich-Soufflet nimmt ein DIN-A4-Blatt, skizziert mit wenigen Strichen und Worten, wie ein typischer Tag ihres Klienten ablief. Auf einen Blick wird das Dilemma jedem offensichtlich. "Wenn jemand versteht, worum es geht, trennt er sich leichter von schlechten Angewohnheiten. Das wird nach meiner Erfahrung dann nicht als Verbot betrachtet."

Reich-Soufflet fällt auf, dass oft besonders willensstarke und beruflich erfolgreiche Persönlichkeiten in puncto Essen eine gewisse "Verhaltens-Resistenz" an den Tag legten. Diese gelte es zu durchbrechen. Doch die Veränderung von Verhaltensmustern sei langwierig und nicht unbedingt gleich mit einem Gewichtsverlust verbunden - langfristig aber schon. Sie erinnert sich an eine 35 Jahre alte Frau, die ohne strenge Diät innerhalb von gut zwei Jahren von 110 auf 70 Kilogramm abgenommen habe. "Sie hat ihre Irrtümer erfaßt und ihren eigenen Weg gefunden." Das bedeutet konkret, dass sie nicht mehr unkontrolliert zugreift, sondern ihr Essen plant.

An der Ernährung allein liegt es in der Regel freilich nicht, wenn jemand partout nicht das Gewicht erreicht, mit dem er sich wohl fühlt. Das wurde auch der Fünfunddreißigjährigen bewußt, die mit dem Schwimmen begonnen hat und seither regelmäßig ein- bis zweimal in der Woche ins Schwimmbad geht. Schließlich spiele auch die seelische Gesundheit eine wichtige Rolle, wozu die Bewältigung von Stress gehöre. Diese drei Komponenten sind nach Ansicht von Reich-Soufflet nicht voneinander zu trennen.